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7.7.2025

Warum wir oft dieselbe Entscheidung treffen – obwohl wir wissen, dass es besser geht

von Gloria Dell'Etere

Warum unser Gehirn sich mit „gut genug“ zufriedengibt

1978 bewies der Nobelpreisträger Herbert A. Simon, dass der Mensch im Grunde nie rein rational entscheidet: Die Zeit ist knapp, die Aufmerksamkeit begrenzt, die Informationen zu zahlreich. Viele Menschen stehen im Drive-in eines Fast-Food-Restaurants, werfen nur einen flüchtigen Blick auf das Menü und bestellen automatisch das Gleiche wie beim letzten Mal, obwohl sie wissen, dass es vielleicht eine bessere Option gäbe. Um nicht in Entscheidungslähmung zu geraten, nutzt unser Gehirn die Strategie des Satisficing: Es bleibt bei der ersten Option, die einen akzeptablen Schwellenwert überschreitet. Simon nannte diesen Zustand bounded rationality – begrenzte Rationalität – und machte ihn zum Ausgangspunkt sowohl der Verhaltensökonomie als auch der frühen künstlichen Intelligenz. Seine Intuition, dass „Computer und Menschen ähnlich denken: chaotisch, intuitiv, ‚gut genug‘“, wurde zum Samen der modernen KI.

Die Folgen erleben wir täglich, oft unbewusst. Wenn Netflix automatisch die nächste Folge abspielt, schauen Menschen im Durchschnitt rund zwanzig Minuten länger als mit deaktivierter Autoplay-Funktion. Es ist nicht Faulheit, sondern Reibung: Ein Klick weniger reicht, damit wir bei der voreingestellten Option bleiben.aAm anderen Ende der ökonomischen Skala geben 59 % vermögender Investor:innen zu, kognitiven Verzerrungen wie Availability Bias (Bevorzugung verfügbarer Informationen) und Recency Bias (Fokus auf das zuletzt Gesehene) zu unterliegen. Selbst mit Analyst:innen und Daten-Dashboards investieren sie oft in das, was sie gerade gelesen oder gesehen haben. Wenn der Druck steigt, greift auch die geübteste Denkweise auf Autopilot zurück.

Ob Sofa oder Börse: Unser Gehirn nimmt die einfachste Abkürzung, sobald Komplexität oder Zeitdruck steigt. Nicht aus Dummheit – sondern weil es effizient sein will. Und genau das sollten wir uns zunutze machen, wenn wir bessere Entscheidungsumfelder schaffen wollen – im Arbeitsleben wie im Alltag.

Warum das in Organisationen zum Problem wird

In heutigen Unternehmen gibt es mehr Entscheidungen, mehr Daten und mehr Lärm im Hintergrund. Die Folgen:

  • Teams vergleichen nicht mehr alle Alternativen und greifen auf das „Wie immer“ zurück.
  • Unternehmer:innen überschätzen ihre Klarheit und unterschätzen den Zeitdruck – am Ende genehmigen sie Projekt-Klone.
  • Mitarbeitende erstarren in der Choice Overload und verschieben alles, was nicht sofort „einfach“ erscheint.

Die Forschung zur Choice Architecture zeigt deutlich: Zu viele Optionen im Menü, Webseiten ohne klare Standardauswahl oder interne Prozesse mit zu vielen Entscheidungstoren führen genau zu diesem Effekt: Mehr Auswahl = weniger qualitativ hochwertige Entscheidungen.

Wie wir den Effekt nutzen können, statt ihm ausgeliefert zu sein

Als Unternehmen für Beratung, Coaching und Training arbeiten wir täglich mit Führungskräften, Gründer:innen und operativen Teams zusammen – und stellen uns dabei oft eine zentrale Frage: Was wäre, wenn wir die kognitiven Grenzen nicht bekämpfen, sondern das Umfeld so gestalten, dass sie uns nützen?

Einige Ideen, die wir dabei gemeinsam mit Kund:innen ausprobieren und weiterentwickeln:

  • Intelligente Defaults: Einen vorab definierten „nächsten Schritt“ erleichtert die Entscheidung. In einem Investitionskomitee wurde z. B. ein Format getestet, in dem der Vorschlag als angenommen gilt, solange keine begründeten Einwände vorliegen. Damit wird Zustimmung zum Normalzustand.
  • Weniger Optionen, stärkere Kontraste: In strategischen Workshops zeigen wir oft nur drei klar unterscheidbare Szenarien – statt zehn ähnlich wirkender Varianten. Das Gehirn erkennt so schneller, was „gut genug“ ist.
  • Time-Boxing mit vorher definierten Kriterien: Noch vor der Datenanalyse legen Teams fest, wie viel Zeit sie investieren und welche zwei Kennzahlen zählen. So entkommt man der Endlosschleife der Alternativen.
  • Schnelle Feedback-Loops: Ein Check-in nach 30 Tagen senkt die Angst vor Fehlern, weil klar ist: Die Entscheidung ist nicht endgültig. Anpassungen sind erlaubt – und das beschleunigt den ersten Schritt.

Viele dieser Impulse basieren auf Lösungen aus ganz anderen Bereichen – vom Hospitality-Design über Bankprodukte bis hin zu Wasser-Spar-Initiativen in Kapstadt – und sie zeigen: Mentale Abkürzungen zu lenken ist oft effektiver, als sie zu blockieren.

Und du – womit könntest du morgen starten?

Mach ein schnelles Entscheidungs-Audit: Welche 5 wiederkehrenden Entscheidungen kosten deinem Team heute am meisten Zeit?
Gibt es für jede davon eine gesunde Voreinstellung, die du festlegen könntest?
Begrenze die Freiheitsgrade: Drei klar unterscheidbare Optionen schlagen zehn Varianten mit minimalen Unterschieden.
Baue eine automatische Rückentscheidung ein: Wenn nach 60 Tagen die Daten die Entscheidung widerlegen, wird sie neu geöffnet – ohne Schuldgefühle. Die Organisation lernt, statt sich zu blockieren.

So wird aus dem „Defizit“ der bounded rationality ein Motor für Tempo, Klarheit und Engagement.
Die Frage ist dann nicht mehr: „Was ist die perfekte Entscheidung?“, sondern:
„Was ist die Entscheidung, zu der wir heute leicht Ja sagen können – und die wir morgen noch besser machen können

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