von Gloria Dell'Etere
Der Mythos der Harmonie.
In vielen Teams und Meetings scheint es so, als sei Harmonie das Ziel. Man hört oft von Mitarbeitenden: "Wir sind wie eine Familie!" Wenn alle nicken und einverstanden sind, wirkt das nach außen oft produktiv und effektiv. Doch häufig ist dieser einhellige Konsens eher eine Form von kollektiver Blindheit – ein gemeinsames Wegsehen vor Problemen, die niemand auszusprechen wagt. Diese oberflächliche Harmonie kann echte Konflikte verschleiern, langfristig der Zusammenarbeit schaden und führt meist zu schlechteren Ergebnissen. Unternehmen brauchen Konflikte, um immer wieder aufs Neue zur bessern Lösung zu kommen und damit im Spiel zu bleiben.
Ein positiv-beeindruckendes Beispiel für den Umgang mit solchen Situationen liefert die Andon-Methode bei Toyota, die schon seit den 1950er Jahren praktiziert wird. Dort dürfen Mitarbeitende jederzeit die Produktionslinie stoppen, sobald sie einen Fehler oder ein Problem erkennen. Das passiert dort nicht selten tausendmal pro Schicht. Und anders als man vermuten könnte, führt das nicht zu Angst oder Misstrauen, sondern ist ein zentraler Bestandteil der Qualitätskultur. Die psychologische Sicherheit, dass niemand negative Konsequenzen fürchten muss, wenn er den Stopp auslöst, ist hier entscheidend. Und das in einem Kulturkreis wie Japan, wo Mitarbeitende grundsätzlich erst nach dem Chef das Büro verlassen.
Das führt zu einem wichtigen Impuls: Wann hast du zuletzt einen scheinbar einheitlichen Konsens im Team hinterfragt? Was hätte sich verändert, wenn du den Mut gehabt hättest, „Nein“ zu sagen? Solche "Reibung" ist es, durch die wirkliche Innovationen entstehen können und Veränderung hin zur bessern Lösung ermöglicht.
Wenn niemand widerspricht, bezahlt jemand den Preis.
Die Folgen, wenn kritische Stimmen nicht gehört werden, können gravierend sein. Das tragische Beispiel der Challenger-Raumfähre 1986 zeigt dies deutlich: Der Ingenieur Roger Boisjoly hatte vor dem Start vor gefrorenen Dichtungsringen gewarnt, doch seine Einwände wurden in der Hierarchie ignoriert. Das Resultat war eine Katastrophe, die hätte verhindert werden können.
Doch nicht immer enden fehlender Widerspruch und mangelnde Kritik in einer Katastrophe. Untersuchungen in großen Unternehmen belegen, dass Projekte im Durchschnitt fast ein Drittel länger dauern, wenn in der Planungsphase kein formeller Dissens dokumentiert wurde. Das heißt, ohne offene Diskussionen verschwenden Teams oft Zeit, Geld und Energie. Ein weiterer Faktor ist der Planungs-Fehlschluss: Menschen neigen dazu, Risiken und Aufwand zu unterschätzen. Fehlt die kritische Rückmeldung, bleibt diese Überschätzung unbemerkt und führt zu unrealistischen Erwartungen.
Diese Beispiele zeigen, dass das Schweigen der kritischen Stimmen am Ende das gesamte Team teuer zu stehen kommen kann.
So kann der Mut zum Widerspruch gefördert werden.
Vielleicht hast du schon darüber nachgedacht, wie es möglich wäre, eine Kultur zu schaffen, in der „Nein sagen“ nicht nur erlaubt, sondern gewünscht ist. Ein Ansatz, der sich in vielen Teams bewährt hat, ist das sogenannte Rote-Karten-System. Dabei kann jede*r Beteiligte eine Diskussion stoppen und eine getroffene Annahme infrage stellen. So wird das Hinterfragen sozial akzeptiert, und die Qualität der Entscheidungen steigt.
Auch in digitalen Arbeitsumgebungen gibt es Tools, die diesen Prozess unterstützen. Ein „Andon-Button“ in Tools wie Miro oder Jira kann aktiviert werden, wenn jemand Zweifel äußert. Daraufhin folgt eine strukturierte Nachfragenrunde, bis alle Unklarheiten beseitigt sind. Hast du schon einmal überlegt, so ein System in deinem Team einzuführen?
Erste Erfahrungen zeigen, dass Teams, die solche Mechanismen anwenden, messbare Vorteile haben: Sie erleben weniger Nacharbeiten, eine höhere Lernbereitschaft und eine stärkere psychologische Sicherheit. Genau diese Sicherheit ist es, die Menschen ermutigt, offen und ehrlich ihre Bedenken zu äußern.
Eine weitere Idee ist das „Fail Fast Friday“-Format: Einmal pro Woche wird ein Meeting dafür reserviert, unangenehme Erkenntnisse und ungelöste Probleme offen anzusprechen. Dieser geschützte Raum hilft, Probleme frühzeitig zu erkennen und anzugehen, bevor sie sich vergrößern. Vielleicht wäre so ein wöchentliches Ritual auch für dein Team eine Möglichkeit, den Mut zum Widerspruch systematisch zu fördern.
Dabei ist es wichtig, dass kritische Beiträge ausdrücklich anerkannt werden. Wie bei Toyota kann eine positive Rückmeldung („Danke, dass du den Mut hattest, das Thema anzusprechen“) viel dazu beitragen, dass sich alle ermutigt fühlen, ihre Stimme zu erheben.
Deine Einladung zum Risikofreitag.
Stell dir vor, dein Team führt einen „Risikofreitag“ ein – eine Stunde, in der jede*r ganz offen und ohne direkte Kritik alle offenen Fragen, Zweifel und Sorgen ansprechen kann. Ein Raum, in dem Schweigen keinen Platz hat und unangenehme Themen endlich sichtbar werden.
Welche Gedanken oder Bedenken hast du vielleicht bisher zurückgehalten? Was wäre, wenn du dir selbst erlaubst, diese in einem solchen Rahmen auszusprechen? Die Einladung lautet, mutig den ersten Schritt zu machen: Schreibe eine Frage oder ein „Nein“ auf und bringe es im nächsten Meeting zur Sprache. Beobachte, wie dein Team darauf reagiert – entsteht daraus ein ehrlicher Austausch, oder verschwindet deine Stimme im Hintergrund?
Psychologische Sicherheit ist der Schlüssel: Ohne sie bleiben alle Methoden und Formate leer. Eine Kultur, in der konstruktive Kritik gewünscht und wertgeschätzt wird, schafft eine Dynamik, die zu stetiger Verbesserung führt. Wie bei Toyota, wo Fehler nicht bestraft, sondern als Lernchance genutzt werden, kann auch dein Team von einem offenen Umgang mit Kritik enorm profitieren.
Vielleicht ist genau jetzt der Moment, um diesen ersten kleinen Schritt zu wagen. Wenn dein Team morgen zum ersten Mal so einen „roten Freitag“ erlebt, was würdest du beitragen? Es braucht nur eine mutige Stimme, um echte Veränderung in Gang zu setzen.
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