von Gloria Dell'Etere
Warum der volle Akku mehr als nur eine Zahl ist
Wir alle kennen das Phänomen: Obwohl wir wissen, dass es der Gesundheit unseres Smartphone-Akkus schadet, laden wir ihn immer wieder auf 100 % auf. Fällt der Ladezustand unter 20 %, empfinden viele von uns fast schon Panik oder Unbehagen. Dieses Verhalten ist rational kaum erklärbar – doch emotional steckt dahinter eine klare Logik.
Ein voller Akku symbolisiert für uns Kontrolle, Sicherheit und die Bereitschaft für alles, was kommen mag. Das Gefühl, „voll geladen“ zu sein, vermittelt Selbstvertrauen und das beruhigende Gefühl, vorbereitet zu sein – selbst wenn wir wissen, dass ein Ladezustand zwischen 30 % und 80 % langfristig besser für die Lebensdauer wäre. Es ist der Wunsch, „alles mitzunehmen“, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig, der uns antreibt.
Dieses Verhalten spiegelt einen tieferen menschlichen Impuls wider: die Angst vor unvorhergesehenen Herausforderungen und das Bedürfnis nach Sicherheit in einer unsicheren Welt. Wir wollen uns nicht ausgeliefert fühlen – weder dem Akku noch den Anforderungen des Alltags. Diese Tendenz zeigt auch, wie wir mit Energie und Ressourcen umgehen – privat wie beruflich.
Der hohe Preis unserer Dauerbelastung
Diese Dynamik spiegelt sich in unserer Arbeitswelt wider: Unsere Kalender sind überfüllt, die E-Mail-Inbox quillt über, To-do-Listen wachsen endlos. Alles wirkt wichtig, alles drängt auf Aufmerksamkeit. Dabei wissen wir aus der Forschung längst, dass ständige Auslastung nicht zu mehr Produktivität führt, sondern im Gegenteil zu weniger Fokus, mehr Stress und langfristiger Erschöpfung.
Das Phänomen des „Busy Trap“, das der Journalist Tim Kreider in der New York Times 2012 beschrieb, zeigt, wie viele Menschen ihren Wert über ihre ständige Auslastung definieren. Wer viel zu tun hat, scheint gebraucht zu werden und ist wichtig. Doch oft handelt es sich dabei nur um Aktivitätsrauschen – viele kleine Aufgaben ohne strategischen Impact, die am Ende Energie kosten, aber keinen echten Fortschritt bringen.
Langfristig führt dieses Verhalten zu Burnout-Risiken, einem Verlust an Kreativität und einer negativen Spirale aus Überforderung und innerer Leere. Das „Immer-auf-100-Prozent-Sein“ ist für Menschen genauso wenig gesund wie für Smartphone-Akkus – und es ist an der Zeit, dieses Muster zu durchbrechen.
Wenn Unternehmen im Dauerstress den Blick verlieren
Nicht nur Einzelpersonen, auch Organisationen und Unternehmen tappen in diese Falle. Statt strategische Freiräume für Denken, Entwicklung und Reflexion zu schaffen, werden alle zeitlichen Lücken mit Meetings, E-Mails und Aufgaben gefüllt. Der Fokus liegt auf Quantität statt Qualität.
Diese permanente Auslastung führt dazu, dass wichtige Fragen, Innovationen und langfristige Strategien keinen Platz mehr finden. Ähnlich wie ein Akku, der ständig auf 100 % läuft, nutzen sich Teams und Unternehmen schneller ab – sie verlieren an Leistungsfähigkeit, Motivation und Widerstandskraft.
Zudem entstehen durch die Überfüllung von Zeit und Energie Barrieren für echte Zusammenarbeit und Kreativität. Statt produktiv zu sein, geraten Teams in eine „Feuerwehr“-Mentalität: Sie reagieren ständig auf dringende Anforderungen, statt proaktiv zu gestalten. Die Folge ist ein ineffizienter Umgang mit Ressourcen und eine Kultur der Dauerbelastung.
Energie managen: Wege zu nachhaltiger Leistung
Wie können Organisationen diesem Trend begegnen und nachhaltige Energiequellen schaffen? Es geht darum, „Aufladen“ neu zu definieren – nicht als Maximierung der Auslastung, sondern als bewusste Pflege von Energie und Fokus.
- Strategische Leere zulassen: Zeit ohne Meetings, E-Mails oder ständige Erreichbarkeit ist kein Leerlauf, sondern notwendiger Raum für Konzentration, kreative Ideen und Erholung. Unternehmen sollten gezielt solche „Fokusräume“ schaffen und schützen.
- Priorisierung statt Addition: Statt immer mehr Aufgaben und To-dos aufzuladen, müssen klare Prioritäten gesetzt werden. Weniger, aber richtig ausgewählte Projekte sorgen für nachhaltigen Erfolg und verhindern Erschöpfung.
- Energiezyklen ernst nehmen: Mitarbeiter sind keine Maschinen. Kreative und produktive Phasen wechseln sich mit Erholungsphasen ab. Organisationen, die diese Zyklen anerkennen und fördern, schaffen ein gesünderes, motivierteres Arbeitsumfeld.
- „Batteriepflege“ ins Team bringen: Führungskräfte sollten regelmäßig den „Ladezustand“ ihrer Teams überprüfen: Wie viel Energie ist wirklich vorhanden? Welche Ressourcen brauchen Mitarbeitende zum „Aufladen“? Nur wer diese Fragen stellt, kann Überlastung rechtzeitig erkennen und gegensteuern.
Vielleicht ist es an der Zeit, unser Verständnis von Leistung und Energie grundlegend zu hinterfragen. Nicht mehr die maximale Auslastung oder das „Immer-auf-100-Prozent-Sein“ sollte unser Ziel sein, sondern eine Balance, die Raum für Erholung, Reflexion und echte Innovation lässt. Nur so schaffen wir nachhaltige Arbeitswelten, in denen Teams nicht nur funktionieren, sondern auch langfristig wachsen und erfolgreich bleiben. Denn wahre Stärke zeigt sich nicht im Dauerbetrieb, sondern im klugen Umgang mit unseren Ressourcen – privat wie beruflich.
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