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28.7.2025

Die Snooze-Taste drücken – und warum kollektives Aufschieben Organisationen lähmt

von Gloria Dell'Etere

Die Illusion von neun Minuten mehr – ein vertrautes Morgenspiel

6:30 Uhr. Der Wecker klingelt. Wir öffnen kurz ein Auge, strecken den Arm aus – und drücken auf Snooze. Nur noch zehn Minuten. Vielleicht zwei Mal. Vielleicht drei Mal. Obwohl wir genau wissen: Es bringt nichts. Wir stehen nicht erholter auf. Im Gegenteil. Der Körper kommt nicht in den Rhythmus, das Gehirn bleibt müde. Warum machen wir es trotzdem?

Der Verhaltensökonom Dan Ariely beschreibt dieses Verhalten als „Kurzzeit-Belohnung trotz Langzeit-Kosten“. Wir entscheiden uns für einen Moment der Bequemlichkeit – und gegen das langfristige Wohlbefinden. Die Illusion von Kontrolle schlägt die Realität des Effekts. Die sogenannte "Snooze-Taste" ist dabei nicht nur ein technisches Feature, sondern ein psychologisches Muster: Es geht darum, kurzfristig unangenehme Gefühle zu vermeiden – auch wenn uns das langfristig schadet.

Dieses Muster findet sich überall – nicht nur im Schlafzimmer, sondern auch in der Arbeitswelt. Unangenehme Aufgaben, kritische Entscheidungen oder schwierige Gespräche werden verschoben, weil die kurzfristige Erleichterung angenehmer erscheint als die Mühe, sich der Herausforderung zu stellen. Das Problem: Wer die Verantwortung dauerhaft vertagt, verpasst Chancen und riskiert Vertrauen.

Wandel wird angekündigt – und dann doch verschoben

In Organisationen sieht das nicht anders aus. Veränderungsprozesse werden angekündigt – aber nicht umgesetzt. Neue Strategien werden entwickelt – aber nicht eingeführt. Transformation bleibt ein Wort auf PowerPoint-Folien. Immer gibt es einen Grund, noch ein bisschen zu warten: die nächste Budgetrunde, das nächste Quartal, der neue CEO, ein aktuelles Krisenthema oder schlicht „noch nicht der richtige Zeitpunkt“.

Stellen Sie sich zum Beispiel folgendes Szenario vor: Ein mittelständisches Unternehmen kündigt eine agile Transformation an. Workshops werden geplant, externe Coaches eingeladen – aber nachdem erste Widerstände auftauchen, wird das Thema vertagt. Man wolle sich „besser vorbereiten“ und „alle mitnehmen“. Das Resultat: Die Initiative verpufft, die Mitarbeitenden sind verwirrt, die Führungskraft verliert an Autorität.

Diese kollektive Snooze-Taste lähmt Teams. Sie sendet unterschwellig die Botschaft: „Veränderung ist nicht dringend.“ Mitarbeitende hören immer wieder von Visionen, erleben aber keine konkreten Fortschritte. Die Folge: Frustration, Zynismus – und innere Kündigung. Studien zeigen, dass fehlende Umsetzung einer der Hauptgründe für den Rückzug von Mitarbeitenden ist – noch vor Gehalt oder Workload (Gallup Engagement Index 2023).

Wenn Ankündigungen an Glaubwürdigkeit verlieren

John Kotter hat bereits vor Jahrzehnten gezeigt: Die Glaubwürdigkeit von Führungskräften entsteht nicht durch große Worte – sondern durch kleine, konsequente Taten. Wer den Wandel immer wieder auf „morgen“ verschiebt, verliert nicht nur an Vertrauen, sondern auch an Wirkungskraft.

Diese Diskrepanz zwischen Versprechen und Realität hinterlässt Spuren. Wenn etwa mehrfach ein neuer Führungsstil angekündigt wird – mehr Transparenz, mehr Feedback, mehr Eigenverantwortung – aber das Verhalten im Alltag gleich bleibt, entsteht ein „Veränderungs-Burnout“. Ein Zustand, in dem Mitarbeitende zwar rhetorisch auf Veränderung eingestellt sind, aber emotional längst abgeschlossen haben. Laut einer Untersuchung von McKinsey (2022) scheitern rund 70 % aller Veränderungsprojekte – meist nicht an der Strategie, sondern am fehlenden Durchhaltevermögen und der mangelnden Authentizität der Führung.

Das Ergebnis: Teams werden passiv. Eine „Es wird ja doch nichts“-Stimmung macht sich breit. Organisationen verlieren ihre Lernfähigkeit, weil niemand mehr wagt, Energie in Veränderung zu investieren, die möglicherweise nicht ernst gemeint ist.

Veränderung aktiv gestalten – Schritt für Schritt zum Fortschritt

Der Weg aus dem Aufschiebe-Kreislauf beginnt nicht mit der einen großen Entscheidung – sondern mit konkreten kleinen Schritten. Die sogenannten „Quick Wins“ (wie sie auch in der Change-Management-Forschung betont werden) sind entscheidend, um Veränderung sichtbar und spürbar zu machen. Ein kleines Beispiel: Eine Führungskraft kündigt eine neue Feedbackkultur an – und beginnt sofort, wöchentliche 15-Minuten-Gespräche einzuführen. Keine große Geste, aber ein klares Signal: Wir fangen jetzt an.

Solche Maßnahmen bauen Vertrauen auf – nicht durch Perfektion, sondern durch Verlässlichkeit. Besonders wirkungsvoll ist es, wenn Teams ihre Fortschritte selbst dokumentieren und sichtbar machen: mit Kanban-Boards, digitalen Journals oder regelmäßigen „Retrospectives“, wie sie aus dem agilen Arbeiten bekannt sind.

Gleichzeitig braucht es einen Rhythmus. Ein Veränderungsprozess sollte nicht nur als Projekt verstanden werden, sondern als neuer Puls der Organisation. Kontinuierliche Updates, transparente Roadmaps und regelmäßige Check-ins sorgen dafür, dass Veränderung zur neuen Normalität wird – und nicht zur Ausnahmesituation.

Klar definierte Verantwortlichkeiten helfen, das zu gewährleisten. Wer sind die „Wecker“ im System? Wer erinnert daran, dass nicht erneut auf Snooze gedrückt wird? Das können Change Agents sein, Führungskräfte oder Mitarbeitende, die bereit sind, Verantwortung zu übernehmen – auch wenn es unbequem ist.

Veränderung ist kein Sprint, sondern ein Prozess. Sie braucht Mut, Geduld und den Willen, dranzubleiben. Organisationen, die diesen Weg transparent und konsequent gehen, stärken nicht nur ihre Resilienz, sondern werden zu echten Lern- und Entwicklungsräumen – für Menschen, Teams und den langfristigen Unternehmenserfolg.

Wie oft drücken Sie in Ihrer Organisation noch auf Snooze – und was wäre der erste kleine Schritt, es morgen anders zu machen?

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