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19.5.2025

Warum wir uns schuldig fühlen, wenn wir nicht arbeiten?

von Gloria Dell'Etere

Die stille Schuld: Warum viele Menschen sich nicht trauen, sich wirklich auszuruhen.

Wir leben in einer Zeit, in der "Beschäftigtsein" zum Statussymbol geworden ist. Wer viel zu tun hat, ist gefragt. Wer keine Zeit hat, scheint wichtig. Und wer sich eine Pause gönnt? Der muss sich oft rechtfertigen. Dieses Phänomen – dass wir uns schuldig fühlen, wenn wir gerade nicht arbeiten – ist kein individuelles Problem. Es ist ein systemisches.

Laut einer Studie des Meinungsforschungsinstituts YouGov (2023) gaben 65 % der Befragten zwischen 25 und 40 Jahren an, sich unwohl oder schuldig zu fühlen, wenn sie in ihrer Freizeit nichts Produktives tun. Auch jenseits der Arbeit, am Wochenende oder im Urlaub, begleitet viele das nagende Gefühl: „Ich müsste doch eigentlich …“

Dieser innere Druck kommt nicht von ungefähr. Jahrzehntelang wurde uns vermittelt: Wer viel leistet, ist viel wert. Die Folge ist ein subtiler, aber konstanter psychologischer Stress – selbst in Momenten, die eigentlich der Erholung dienen sollten.

Dabei zeigt die Forschung klar: Regelmäßige, echte Pausen erhöhen nicht nur die Konzentration, sondern senken langfristig das Risiko für Burnout, Depression und chronische Erschöpfung (Quelle: WHO & European Agency for Safety and Health at Work, 2022).

Die Kultur hinter dem Schuldgefühl: Was unsere Vorstellung von Arbeit mit uns macht.

Das schlechte Gewissen entsteht nicht in uns – es entsteht in der Kultur, die uns umgibt. Viele Unternehmen senden widersprüchliche Signale: Auf der einen Seite wird "Work-Life-Balance" propagiert, auf der anderen Seite wird Überstundenarbeit als Engagement gefeiert. Wer eine Slack-Nachricht abends um 22:30 beantwortet, wird als besonders „motiviert“ wahrgenommen. Wer sich zwei Tage offline nimmt, wird schief angeschaut.

Die Soziologin und Burnout-Forscherin Dr. Devon Price schreibt dazu in ihrem Buch "Laziness Does Not Exist" (2021):

"Wir sind in ein System eingebettet, das Faulheit pathologisiert und Ruhe als Schwäche wertet – obwohl beides zum Menschsein gehört. Das macht uns krank."

Ein Beispiel aus der Praxis: Bei Salesforce gab es eine interne Erhebung, warum viele Mitarbeitende ihren bezahlten Urlaub nicht vollständig in Anspruch nahmen. Die häufigste Antwort: "Ich möchte nicht, dass mein Team denkt, ich ziehe mich zurück." Daraufhin hat Salesforce ein Programm gestartet, das Führungskräfte aktiv dazu auffordert, ihre eigenen Pausen sichtbar zu machen – mit erstaunlichem Effekt: Die Inanspruchnahme von Urlaub stieg innerhalb eines Jahres um 28 %.

Solche Maßnahmen sind nicht nur „nett“ – sie sind überlebenswichtig. Denn in einer hybriden Arbeitswelt, in der informelle Korrekturschleifen oft fehlen, entstehen gefährliche Dynamiken: Wer nicht sichtbar leistet, wird schnell übersehen. Und wer sich selbst keine Pause gönnt, erwartet meist auch keine von anderen.

Wege aus der Schuldspirale: Was Unternehmen konkret tun können.

Produktivität ohne Schuld ist möglich – aber nur, wenn wir bereit sind, unsere Vorstellungen von Arbeit grundlegend zu hinterfragen. Es reicht nicht, Wellness-Programme oder Feelgood-Maßnahmen anzubieten. Was es braucht, ist ein struktureller Perspektivwechsel.

Hier einige konkrete Maßnahmen, die international bereits mit Erfolg eingesetzt werden:

  • Unplugged Fridays bei Heineken: Einmal im Monat werden nachmittags alle internen Meetings und Nachrichten gestoppt. Kein Slack, keine Mails, keine Calls. Das Ziel: mentale Entlastung für alle – und ein kollektives Signal, dass Ruhe kein individuelles Problem ist, sondern ein organisationales Thema.
  • Slack-Bot „Donut“ bei Personio: Das Tool lost jede Woche zwei zufällige Mitarbeitende aus, die sich für ein informelles Gespräch oder einen digitalen Kaffee verabreden. Es geht bewusst nicht um Aufgaben – sondern um Verbindung, Leichtigkeit und gegenseitige Wahrnehmung. Ergebnis: Höheres Vertrauen, geringere Fluktuation.
  • Spaziergänge mit Sinn bei TRUMPF: Im Rahmen des Programms „Walk & Talk“ verabreden sich Kolleg:innen bewusst zu kurzen Gesprächen ohne Bildschirm – im Park, im Hof oder remote per Telefon. Ohne Agenda. Ohne Druck. Nur mit einem offenen Ohr füreinander.
  • Pausenradar als Selbstcheck: Unternehmen wie Atlassian oder SAP experimentieren mit Tools, bei denen Mitarbeitende ihr Energielevel in einem einfachen, anonymen Check-in-Format teilen können. Das Ergebnis wird aggregiert visualisiert – nicht zur Kontrolle, sondern als Einladung zur Reflexion im Team.

Eine zusätzliche Idee, die sich leicht umsetzen lässt: monatliche Team-Retrospektiven mit dem Fokus „Was hat mich aufgeladen – was hat mich ausgelaugt?“ Statt über Tasks wird über Energie gesprochen. Das verändert nicht nur das Klima – sondern auch die Art, wie Teams Leistung verstehen.

Wie wir Organisationen helfen, Pausen produktiv zu machen.

In unserer Arbeit mit Teams und Führungskräften geht es oft nicht um die Frage „Wie arbeiten wir mehr?“ – sondern: „Wie arbeiten wir gesünder, klarer und menschlicher?“ Denn der wahre Produktivitätskiller ist nicht Faulheit – sondern die permanente innere Anspannung. Was wir tun:

  • Kulturelle Muster sichtbar machen: Wir analysieren nicht nur Prozesse, sondern auch unausgesprochene Erwartungen. Wo entsteht Druck? Wo wird Schuld verschleiert als Engagement?
  • Führungskräfte stärken: Gemeinsam mit Leadern identifizieren wir Mikrosignale, die Kultur formen – und helfen, bewusst neue Signale zu setzen, etwa durch Vorbildverhalten bei Ruhezeiten oder bewusste Abwesenheit.
  • Impulse für Veränderung geben: Ob durch kleine Experimente wie „Silent Mondays“, bewusste Check-outs, oder Fragen wie „Was brauchst du, um dich sicher zurückzuziehen?“ – wir begleiten Organisationen dabei, echte Pausenkultur zu entwickeln, nicht bloß Wellness-Poster.

Wie frei ist Ihre Organisation von der Produktivitätsschuld?

Ermutigen Sie Ihre Mitarbeitenden wirklich, Pausen zu nehmen – oder erwarten Sie, dass sie sie sich nehmen, ohne es zu zeigen? Wird Ruhe in Ihrem Team als Teil von Leistung betrachtet – oder als Abwesenheit davon?

Wenn Sie merken, dass in Ihrem Unternehmen Leistung gewürdigt, aber Regeneration ignoriert wird, lohnt sich ein neuer Blick. Denn nachhaltige Produktivität beginnt nicht mit einem Tool – sondern mit einem Kulturwandel.

Lassen Sie uns gemeinsam herausfinden, wie aus Schuld neue Selbstverantwortung entstehen kann.

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